Zwanzig Jahre Fortschritt – und trotzdem kein struktureller Durchbruch

Seit fast zwanzig Jahren begleitet Digitalisierung Unternehmen wie ein Dauergeräusch. Die Begriffe wechseln, die Konferenzen wechseln, die Schlagzeilen wechseln – E-Government, Industrie 4.0, digitale Transformation, Cloud, Automatisierung, jetzt KI, Agenten, Workflows. Was sich kaum verändert, ist das Versprechen: Prozesse sollen effizienter werden, Koordination einfacher, Entscheidungen besser, Arbeit leichter.
Und dennoch bleibt das Gefühl, dass etwas nicht aufgeht. Es gibt Fortschritt, ja. Es gibt einzelne Erfolge, Leuchttürme, Projekte. Aber es gibt keinen flächendeckenden strukturellen Durchbruch, kein „Jetzt funktioniert es wirklich anders“. Stattdessen wächst mit jeder neuen Technologieebene vor allem eines: strukturelle Überforderung, die auf massiver Zunahme technischer Möglichkeiten und fehlendem Horizont an den Stellen wo Digitalisierung real passieren kann.


Wenn Innovation sich schneller verdichtet, als Organisationen sie verarbeiten können

Diese Überforderung ist kein individuelles Versagen und kein Zeichen mangelnder Innovationsbereitschaft. Sie ist das Resultat einer langfristigen Entwicklung, die in vielen Organisationen kaum bewusst reflektiert wird: einer stetigen Verdichtung von Innovationen, die sich schneller anhäufen, als sie strukturell verarbeitet werden können.
Digitalisierung war nie ein einzelner Sprung. Sie war eine Abfolge von Teilinnovationen, die sich übereinandergelegt haben. Erst Dokumentenmanagement, dann Workflow-Systeme, dann Integration, dann Plattformen, dann Automatisierung, jetzt KI. Jede dieser Ebenen kam mit eigenen Möglichkeiten, eigenen Tools, eigenen Versprechen – und jede wurde in bestehende Organisationsstrukturen eingebaut, ohne dass diese Strukturen grundlegend mitgewachsen wären.

Zusätzlich hatten die ersten digitalen Systeme eher Inselcharakter und setzten hohe Investitionen voraus. Hieraus resultieren heute neue Probleme, da die Brücken zwischen den Inseln nicht mehr einfach mit Systemen gefüllt werden können. Die Welt der technischen Systeme, stellt die Unternehmen vor Fragen, ob Sie die Lücken der Systeme mit Schnittstellen überbrücken, eigene Systeme inhouse bauen lassen oder sich in die Abhängigkeit ganzheitlicher Konzeptwelten, wie der von Microsoft (Fabric IQ) zu beegeben und sich an einen Hersteller/Dienstleister zu binden.


Der eigentliche Kern der Problematik, liegt nicht in Technik sondern fehlendem Verständnis und Planung

Die meisten Unternehmen – insbesondere im Mittelstand – sind nicht dafür gebaut worden, permanent neue Möglichkeiten zu bewerten. Sie sind historisch auf Stabilität optimiert. Auf verlässliche Abläufe, klare Zuständigkeiten, kalkulierbare Veränderungen. Das berühmte „Never change a running business“ ist keine Ignoranz, sondern war über Jahrzehnte eine rationale Erfolgslogik.
Diese Logik hat jedoch eine Nebenwirkung, die im aktuellen Innovationsdruck sichtbar wird: Im operativen Tagesgeschäft existiert oft keine Rolle, keine Zeit und kein Mandat, welches exklusiv daran arbeitet, technologische Möglichkeiten systematisch zu verstehen und in die eigene Unternehmensrealität zu übersetzen. Damit fehlt die Basis um aktiv zu werden, denn ohne Verständnis für Möglichkeiten, Vorstellung vom Bedarf fehlt die Vorrausetzung für eine Maßnahmenplanung. Digitalisierung und KI tauchen genau deshalb oft nicht als integrierter Bestandteil in Organisationen auf, sondern als etwas, das „zusätzlich“ passiert – in Projekten, Piloten, Initiativen, Workshops.
Das führt zu einer gefährlichen Fehlannahme: Man glaubt, das Problem liege in der Auswahl der richtigen Technologie. In Wahrheit liegt es davor. Der eigentliche Engpass ist nicht die Umsetzung, sondern die Übersetzung. Übersetzung zwischen dem, was technisch möglich wäre, und dem, was im konkreten Unternehmen tatsächlich sinnvoll, tragfähig und wirksam ist. Diese Übersetzung passiert nicht automatisch. Sie braucht Menschen, die beides kennen: den Alltag der Organisation und den Möglichkeitsraum der Technologie.
Nicht, weil Unternehmen das ignorieren, sondern weil ihre Strukturen dafür nie ausgelegt waren. Das Tagesgeschäft ist voll. Budgets sind gebunden. Erfolg wird an operativer Stabilität gemessen, nicht an Erkenntnisgewinn. Wer in dieser Logik arbeitet, hat weder Zeit noch Auftrag, sich kontinuierlich mit neuen Möglichkeiten auseinanderzusetzen – geschweige denn, daraus einen langfristigen Plan zu entwickeln.
Stattdessen entsteht ein reaktives Muster. Orientierung wird nach außen verlagert: zu Beratern, Anbietern, Förderprogrammen, Medien. Entscheidungen entstehen unter Zeitdruck, oft auf Basis von Präsentationen und Versprechen. Das Resultat sind punktuelle Lösungen, Insellösungen, Teilautomatisierungen – selten jedoch eine tragfähige Gesamtstruktur.
Hinzu kommen Herausforderungen durch hierarchische Strukturen, Machterhaltung und fehlende nicht interessengetriebene Entscheidungskultur, die selbst wenn intern Innovationsstreben durch die Basis vorgeschlagen wird, oft durch fehlende Verständnis, fehlende Entscheidungsfreude und kollidierende Interessen agile aber klare Umsetzung unterbinden.


Mit KI verdichtet sich der GAP zwischen Marktangebot und struktureller Verarbeitungfähigkeit

Nun sind wir an einem neuen Innovationsbruch und einem gehypten Technologiesprung angekommen – KI.
Diese verdichtet den Möglichkeitsraum nochmals massiv und trifft auf Strukturen, welche bisherige Möglichkeiten nicht sauber implementieren und integrieren konnten. KI verändert die Ausgangslage nicht grundsätzlich – sie verdichtet sie.
Nicht, weil KI „zu kompliziert“ wäre, sondern weil sie den Möglichkeitsraum sprunghaft erweitert. Während bisher einzelne Prozesse, Workflows oder Systeme im Fokus standen, rücken nun ganze Entscheidungslogiken, Kommunikationsketten und Koordinationsaufgaben in Reichweite technischer Unterstützung. Die Zahl denkbarer Anwendungsfälle wächst schneller, als Organisationen sie überhaupt einordnen können.
Gleichzeitig bleibt die organisatorische Realität unverändert. Es gibt weiterhin keine fest verankerte Instanz im operativen Alltag, deren Aufgabe es wäre, diese neuen Möglichkeiten systematisch mit Prozessen, Datenlogiken und tatsächlichen Bedarfen abzugleichen. KI trifft damit auf dieselbe Leerstelle wie frühere Digitalisierungswellen – nur mit deutlich größerer Wucht.
Was daraus entsteht, ist kein qualitativer Fortschritt, sondern eine Zuspitzung des bekannten Musters: zu viele Optionen, zu wenig Orientierung, zu wenig Zeit. KI wird so nicht zur operativen Denk- oder Prognoseeinheit, sondern zunächst zu einem weiteren Werkzeug, das theoretisch viel kann, praktisch aber kaum strukturiert genutzt wird – insbesondere in Organisationen, die noch mit linearen Datenstrukturen und fragmentierten Workflows arbeiten.
An diesem Punkt wird häufig von „fehlender Aufnahmefähigkeit“ gesprochen. Das ist nicht falsch, greift aber zu kurz. Denn das Problem liegt nicht darin, dass Organisationen mehr Technologie nicht „aushalten“, sondern darin, dass ihnen weiterhin das Verständnis für sich selbst fehlt und die nachgelagerte Entscheidungskapazität fehlt. Ohne diese Kapazität gibt es keinen Plan. Und ohne Plan gibt es keine kontinuierliche digitale Entwicklung, sondern nur eine Abfolge von Reaktionen. Innovation wird dann nicht gestaltet, sondern als Tool und nicht strukturell integriert genutzt.


Digitalisierung beginnt nicht mit Technologie, sondern mit Erkenntnisfähigkeit

Digitalisierung scheitert weder ausschließlich an Tools noch allein an mangelnder Geschwindigkeit. Sie scheitert dort, wo Unternehmen kein ausreichendes Verständnis dafür entwickeln, welche technologischen Möglichkeiten überhaupt existieren, welche davon für die eigene Organisation relevant sind und welche Voraussetzungen dafür fehlen. Ohne dieses Verständnis entsteht kein Entscheidungsraum. Und ohne Entscheidungsraum gibt es keine Planung, sondern nur Reaktion auf Marktangebote, Anbieterlogiken und externe Impulse.
Der Aufbau interner Kompetenz – sei es durch einzelne Rollen, kleine Einheiten oder verteiltes Know-how – ist deshalb kein Selbstzweck und keine Garantie für Erfolg. Er ist jedoch eine der wenigen realistischen Möglichkeiten, die wachsende Innovationsdynamik mit den eigenen operativen Ist-Zuständen, Datenstrukturen und Prozessen in Beziehung zu setzen. Erst dadurch wird sichtbar, was sinnvoll priorisiert werden kann, was aktuell nicht tragfähig ist und wo Investitionen mehr Schaden als Nutzen anrichten würden. In diesem Sinne geht es weniger um Effizienzgewinne als um Selbstschutz vor falschen Entscheidungen und strategischen Sackgassen.
Gleichzeitig funktioniert dieser Ansatz nicht isoliert. Interne Erkenntnisfähigkeit entfaltet nur dann Wirkung, wenn sie in Entscheidungsstrukturen eingebettet ist, die tatsächliche Veränderung zulassen. Ohne finanzielle Verankerung in Investitionsplänen, ohne Anpassung organisationaler Strukturen und ohne bewusste Mitnahme des Faktors Mensch bleibt auch das beste Verständnis folgenlos. Wo zentrale Machtlogiken, Abteilungsinteressen oder starre Hierarchien Entscheidungen blockieren, werden selbst gut gemeinte Digitalisierungsrollen wirkungslos.
Digitalisierung wird damit weder durch Technologie noch durch externe Beratung entschieden, sondern durch die Fähigkeit von Organisationen, sich selbst ausreichend zu verstehen, um bewusst wählen zu können, welchen Weg sie gehen – und welchen nicht. Nicht alle Unternehmen müssen oder können jede technologische Entwicklung nutzen. Aber ohne eigenes Wissen über Möglichkeiten, Grenzen und Voraussetzungen bleibt ihnen diese Wahl von vornherein verwehrt.

Gregor Anthes

Gregor Anthes

Founder

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