Wie systemische Innovationen entstehen und welche Chance das für Europa ist, sich global zu positionieren

Systemische Innovationen – ein Blick in die Geschichte

Große Umbrüche der Moderne sind nicht durch einzelne Erfindungen entstanden, sondern durch systemische Innovationen. Das Schienennetz, die Elektrifizierung ganzer Länder, das Internet – keine dieser Entwicklungen war ein Produkt, kein Startup, keine einzelne Technologie. Sie waren das Ergebnis eines langen Zusammenspiels aus Wissen, Infrastruktur, politischer Entscheidungskraft und ökonomischer Umsetzung.

Charakteristisch für diese Umbrüche ist ihre Zeitachse. Zwischen der ersten Idee, der technischen Machbarkeit und der gesellschaftlichen Wirkung lagen oft Jahrzehnte. Dampfkraft existierte lange, bevor sie Mobilität veränderte. Elektrizität war bekannt, lange bevor sie Städte strukturierte. Das Internet begann als Forschungsnetzwerk, lange bevor es Wirtschaft, Verwaltung und Alltag neu ordnete.

Systemische Innovationen entstehen selten, weil jemand „die Zukunft plant“. Sie entstehen, weil viele Akteure über lange Zeit an Teilproblemen arbeiten, bis sich rückblickend zeigt, dass daraus eine neue Infrastruktur entstanden ist. Erst im Nachhinein wird sichtbar, dass ein Epochenwechsel stattgefunden hat.

Diese historische Trägheit ist kein Zufall. Sie ergibt sich aus der Art, wie Gesellschaften organisiert sind – und aus der Art, wie aus Teilinnovationen strukturelle Entscheidungen werden. Forschung produziert Wissen, Wirtschaft übersetzt Teile davon in marktfähige Anwendungen, Politik reagiert auf sichtbare Effekte. Was dabei oft unterschätzt wird: Zwischen diesen Ebenen wirken Interessen, Machtverhältnisse und Pfadentscheidungen, die darüber bestimmen, welche Lösung zur Infrastruktur wird – und welche nicht.

Historisch waren es selten die technisch „besten“ Lösungen, die sich durchsetzten, sondern jene, die zur bestehenden Wirtschaftslogik, zu Kapitalinteressen und politischen Allianzen passten. So wurden aus frühen Einzelanwendungen ganze Systementscheidungen: Verkehr, Energie, Kommunikation. Infrastruktur entstand nicht neutral, sondern entlang derjenigen Innovationen, die Anschlussfähigkeit, Lobbykraft und wirtschaftliche Durchsetzung besaßen. Koordination geschah daher kaum vorausblickend, sondern meist reaktiv und interessengeleitet.


Warum systemische Entwicklungen heute anders verlaufen könnten

Historisch entstanden große Systeminnovationen langsam, weil Wissen fragmentiert war und Koordination technisch wie organisatorisch begrenzt. Heute ist diese Ausgangslage grundsätzlich verändert. Forschung ist global vernetzt, technologische Grenzen sind gut beschrieben, und viele der relevanten Bausteine existieren bereits parallel. Was sich jedoch nicht im gleichen Maße verändert hat, sind die gesellschaftlichen Strukturen, die entscheiden, was als systemische Aufgabe verstanden wird. Politik, Markt, Forschung und Gründerszene folgen jeweils eigenen Logiken, die für sich genommen sinnvoll sind – im Zusammenspiel jedoch blinde Flecken erzeugen. Der entscheidende Unterschied zur Vergangenheit liegt darin, dass wir heute nicht auf Entdeckung warten, sondern vor einer Gestaltungsfrage stehen. Die nächste Entwicklungsstufe entsteht nicht automatisch, sondern nur dann, wenn sie als zusammenhängendes System begriffen und behandelt wird.

Eine historische Besonderheit unserer Zeit

Heute befinden wir uns erstmals in einer grundlegend anderen Situation. Zum ersten Mal ist die nächste große systemische Entwicklungsrichtung nicht nur rückblickend erkennbar, sondern bereits im Voraus benannt. Sie hat einen Namen, sie ist Gegenstand globaler Debatten, sie prägt Forschung, Wirtschaft und öffentliche Wahrnehmung: künstliche allgemeine Intelligenz – AGI.

Unabhängig davon, wie man den Begriff im Detail definiert, steht er für etwas sehr Konkretes: für den Übergang von heutigen, modellzentrierten KI-Systemen zu allgemeinen kognitiven Systemen. Der Unterschied wird gerade dort sichtbar, wo die Grenzen aktueller Sprachmodelle offen zutage treten. LLMs optimieren auf Wahrscheinlichkeit, nicht auf Verstehen; sie besitzen kein dauerhaftes Gedächtnis, keine eigene Prozesslogik und keine stabile innere Repräsentation von Kontext. Halluzinationen, inkonsistente Entscheidungen und fehlende Nachvollziehbarkeit sind keine Randprobleme, sondern strukturelle Folgen dieses Ansatzes.

Genau aus diesen Defiziten lässt sich jedoch bereits heute ableiten, was die nächste Generation leisten muss: Systeme, die Kontext über Zeit hinweg halten, Entscheidungen strukturiert entwickeln, Unsicherheit erkennen und Verhalten konsistent in Prozesse einbetten können. AGI bezeichnet in diesem Sinne keinen Leistungszuwachs bestehender Modelle, sondern einen Systemwechsel – weg von punktueller Leistungsoptimierung, hin zu dauerhaft organisierter Kognition.

Und doch zeigt sich hier ein Paradox: Obwohl diese Entwicklungsrichtung öffentlich diskutiert wird, existiert kein gesellschaftlicher, politischer oder ökonomischer Plan, der diese Entwicklung als systemische Aufgabe behandelt. Es gibt keine gemeinsame Zielarchitektur, keine abgestimmte Priorisierung, keine institutionelle Verantwortung für den Aufbau eines solchen Systems.


Sichtbarkeit ist nicht gleich Erkennen

Die Folge ist kein Mangel an Aktivität, sondern ein Mangel an Orientierung. Es ist kein Geheimnis, wohin sich die Entwicklung bewegt. Der Begriff existiert längst. Er wird in Medien, Forschungsprogrammen und Strategiepapieren verwendet. Die nächste Entwicklungsstufe hat einen Namen: AGI (General Artificial Intelligence) Gleichzeitig richtet sich die tatsächliche Aufmerksamkeit fast ausschließlich auf etwas anderes: auf Derivate bestehender Sprachmodelle. Auf Produkte, Plattformen und Integrationen, die um LLMs herum gebaut werden und kurzfristig verwertbar sind. Diese Systeme dominieren den Markt, den Hype und die öffentliche Wahrnehmung – obwohl sie strukturell nicht das leisten, was mit AGI eigentlich gemeint ist und was für echte systemische Integration und Struktur notwendig wäre So entsteht eine paradoxe Situation: Eine Chance ist benannt, aber keiner fühlt sich zuständig. Wenn AGI entsteht, dann wird sie von denselben Akteuren kommen, die bereits heute die leistungsfähigsten KI-Systeme betreiben. Von großen, kapitalstarken Technologieunternehmen, primär außerhalb Europas. Genau hier liegt jedoch das unausgesprochene Problem. Denn selbst wenn diese Akteure AGI entwickeln, ist bereits heute absehbar, dass solche Systeme nicht die Anforderungen erfüllen können, die Europa an zentrale digitale Systeme stellt: Nachvollziehbarkeit, Revisionsfähigkeit, institutionelle Einbettung, demokratische Kontrolle, langfristige Verlässlichkeit. Mit anderen Worten. Wir wissen, wer sie wahrscheinlich baut – und wir wissen gleichzeitig, dass wir sie so nicht nutzen können.

Die Betriebsblindheit funktionierender Systemstrukturen und warum der Markt systemische KI nicht entwickelt

Die größte Hürde für neue systemische Entwicklungen ist selten technischer Natur. Sie liegt in der Betriebsblindheit funktionierender Strukturen.

  • Forschung optimiert auf Tiefe und Spezialisierung. Sie erzeugt exzellentes Wissen zu Teilproblemen, aber keine integrierten Zielarchitekturen.
  • Märkte belohnen schnelle Umsetzbarkeit und klare Monetarisierung. Sie fördern Anwendungen, nicht langfristige Systementwürfe.
  • Kapitalmärkte priorisieren Skalierbarkeit und Exit-Fähigkeit. Langfristige, koordinierte Aufbauprozesse fallen aus diesem Raster.
  • Politik agiert reaktiv. Sie investiert in das, was bereits sichtbar und marktfähig ist, nicht in das, was erst durch Struktur entsteht

Jede dieser Logiken ist für sich genommen rational. Zusammengenommen verhindern sie jedoch, dass etwas als gemeinsames Projekt entsteht. Was fehlt, ist nicht Kompetenz, sondern Verbindlichkeit über Systemgrenzen hinweg.

Der Markt ist ein mächtiger Innovationsmotor – aber er ist nicht dafür gemacht, Infrastrukturen der nächsten Generation zu entwerfen, solange deren Nutzen nicht kurzfristig monetarisierbar ist.  Systemische KI – verstanden als kohärentes, auditierbares, dauerhaft lernfähiges Gesamtsystem – erfüllt genau diese Bedingung nicht. Sie ist kein Produkt, kein Feature, kein klar abgrenzbarer Markt. Ihr Wert entsteht erst, wenn sie Tragstruktur für viele andere Prozesse wird: Verwaltung, Versorgung, Industrie, Bildung, Sicherheit.

Solche Systeme wurden historisch nie ausschließlich durch Marktmechanismen geschaffen. Sie benötigten politische Zielsetzung, institutionelle Koordination und langfristige Investitionslogiken. Der Markt kann auf solchen Fundamenten aufbauen – er kann sie jedoch nicht aus sich selbst heraus erzeugen.


Die europäische Situation: Nachteil und Möglichkeit zugleich

Europa befindet sich in einer ambivalenten Lage. Im klassischen Modell- und Plattformwettbewerb ist es strukturell im Nachteil. Dominante Akteure sitzen anderswo, Kapital konzentriert sich global, Skaleneffekte wirken asymmetrisch.  Gleichzeitig besitzt Europa einen potenziellen Vorteil: Es ist besonders stark dort, wo Regulierung, Governance, Versorgungssysteme und institutionelle Verantwortung eine zentrale Rolle spielen. Genau diese Kompetenz und Anforderungen, sind maßgebliche Parameter die eine echte AGI auch technisch zum Vorreiter machen würde. Der entscheidende Punkt ist: Der nächste globale Wettbewerb wird nicht allein über Rechenleistung oder Modellgröße entschieden, sondern über die Fähigkeit, Systeme zu bauen, die in komplexe gesellschaftliche Strukturen eingebettet werden können – AGI.

Warum Zeit erstmals ein gestaltbarer Faktor ist

Ein weiterer historischer Unterschied zur Vergangenheit ist die Verfügbarkeit von Wissen. Viele der zentralen Herausforderungen systemischer KI sind bekannt. Ebenso existieren bereits unterschiedliche Forschungsansätze, die sich mit Gedächtnisstrukturen, Prozesslogik, Interpretierbarkeit und Kontrolle beschäftigen. Was fehlt, ist nicht Forschung, sondern jemand der sich verantwortlich fühlt, Politik die es fokussiert und Kapital es umzusetzen. Mit diesem Mix wäre es möglich, strukturelle Innovation massiv zu beschleunigen und das was früher Jahrzehnte brauchte viel schneller möglich zu machen.

Was passieren müsste, damit aus Möglichkeit Realität wird

Ein solcher Entwicklungspfad setzt jedoch einen Perspektivwechsel voraus. Weg von isolierten Projekten, hin zu einem koordinierten Aufbauprozess. Weg von kurzfristiger Effizienz, hin zu langfristiger Handlungsfähigkeit. Das bedeutet nicht Planwirtschaft und nicht staatliche Kontrolle von Technologie. Es bedeutet, systemische Fragen dort zu verorten, wo sie hingehören: auf der Ebene von Architektur, Governance und Verantwortung. Erst wenn diese Ebenen zusammengedacht werden, entsteht der Raum, in dem Markt, Forschung und Politik ihre jeweiligen Stärken entfalten können – nicht gegeneinander, sondern aufeinander aufbauend. Die eigentliche Herausforderung im KI-Zeitalter ist nicht technischer Fortschritt. Sie liegt darin, ob Gesellschaften in der Lage sind, neue Möglichkeiten als solche zu erkennen, bevor sie sich zufällig durchsetzen oder extern bestimmt werden. Europa hat das Wissen, die Institutionen und die gesellschaftliche Reife, um hier eine aktive Rolle zu spielen. Ob daraus Gestaltung entsteht, hängt nicht von Modellen oder Produkten ab, sondern davon, ob es gelingt, Systeme zu denken, bevor sie entstehen. Die Frage ist nicht, ob diese Entwicklung kommt. Die Frage ist, ob wir schaffen First-Mover zu werden oder das Spielfeld den aktuell dominierenden Marktakteuren überlassen.
Gregor Anthes

Gregor Anthes

Founder

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